петък, 31 юли 2015 г.

Anmerkungen zu „Leviathan“

Статията ми за "Левиатан" на немски. Оригиналната публикация е тук
Bei einem Rendezvous mit dem korrupten, grotesken Bürgermeister zitiert ein orthodoxer Priester den Römerbrief des Apostel Paulus, Kapitel 13.
Genauer: jenen populär gewordenen Teil, der lautet: „Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt “. Dieses Zitat wiederholt sich sogar in zwei verschiedenen Szenen, der Film legt einen Wert darauf.
Denn, nimmt man es wörtlich, kommt auch die Aussichtslosigkeit des Individuums gegenüber dem System klar ersichtlich hervor. Es stellt sich heraus, dass eben die Vertreter des Systems an Gott glauben (noch mehr sogar, dass de facto Gott der Arbeitgeber des Bürgermeisters ist) und nicht das Individuum. Das Individuum verliert durch Gott alles, wie der biblische Hiob. Aber im Unterschied zu Hiob, wird uns Nikolaj am Ende nicht in seinem wiedergewonnen Glück und Segen gezeigt. Er bleibt ein Verlierer.
Die Worte der Hl. Schrift werden von den Machthabern nicht nur buchstäblich genommen, sie werden auch bequem interpretiert – der Bürgermeister fühlt sich beruhigt nach seinen Treffen mit dem ehrwürdigen Bischof.
Er fühlt sich soweit beruhigt, dass er seine bestialischen Vergehen mit einem noch größeren Elan fortführt (es wird ihm ja von oben herab eine carte blanche gegeben). Er glaubt aufrichtig daran, dass Gott „in seiner Mannschaft“ mitspielt. Andererseits, der Moskauer Anwalt Dmitrij, der Freund Nikolajs, beschwört stolz, dass er „nicht an Gott, sondern an die Fakten glaubt“. Aber Nikolaj glaubt an nichts. Eigentlich glaubt er seiner Frau und hat keine Ahnung wie falsch er damit liegt.
Ich betone das alles, da m. E. eben darin die Hauptidee von „Leviathan“ liegt. Diese schwankt zwischen zwei großen Texten: der eine ist Poesie, der andere Prosa – das Buch Hiob und der Traktat Leviathan von Hobbes.
Es besteht aber keine vollständige Übereinstimmung weder mit dem einem noch mit dem anderen. Ich finde diese woanders: in der Warnung vor dem Missverstehen der genannten Zeilen von Römer 13. Die beeindruckenden Bilder des Zvyagintsev zeigen uns deutlich, welche elende Wirklichkeit solch ein Missverstehen zustande bringen kann. Wenn die Macht von oben herab gekommen ist, anstatt von unten herauf, wenn keiner „bevollmächtigt ist“, sie in Frage zu stellen, wenn alles seinem Gang überlassen ist – führt nicht gerade dies, fragt Zvyagintsev, zum Obskurantismus, zur sittlichen Verdummung und zur alkoholisierten Apathie. Wird dann nicht auch unser eigenes Bewusstsein zu einer entlegenen, dunklen Provinz, zu der die guten Nachrichten zu lange fahren, um überhaupt anzukommen?
Die zeitgenössischen weltlichen Gesellschaften haben sich dazu entschieden, Römer 13 nicht wörtlich zu verstehen. Deshalb steht auch in unseren Grundgesetzen (z. B. im bulgarischen sowie im russischen) auch etwas ganz anderes – dass die Macht allein aus dem Volk heraus kommt.
Auch wenn Gott ursächlich ist für die Entstehung des Volks, hat Er das Volk jedoch selbst seine eigenen Missverständnisse wählen lassen. Dies legitimiert auch das Urrecht zum Einspruch-Erheben, zum Protest. Im Zvyagintsevs „Leviathan“ ist dieses gleiche Recht unerreichbar für den Protagonisten Nikolaj. Er kann nichts tun, und wenn wir ehrlich sind, versucht er erst gar nicht viel zu machen.
Der Betrachter bemitleidet Nikolaj für seine ungerechten Verluste, aber in diesem Film gibt es eigentlich keine guten Menschen. Der Bürgermeister ist schlecht und der Bischof auch. Dass beide an einem Strick ziehen macht es dann ganz schlimm. Aber Nikolaj, Lilja, der Anwalt Dmitrij, der Sohn Romka, die Freunde der Familie – sie sind alle nicht gut. Es ist leicht, sie angesichts der Tragödie zu bemitleiden, hin und wieder über sie zu lachen, aber er ist nahezu unmöglich, jemanden aus diesem nördlichen Städtchen lieb zu gewinnen. Der Bürgermeister Wadim ist das reinste Böse, aber Schuld daran, dass Nikolaj säuft, hat er nicht. „Wer ist schuld?“ fragt Herzen noch am Anfang der 40-er Jahre des 19. Jahrhunderts. Die Russophoben tragen mit größtem Vergnügen das Saltykov-Schtschedrin zugeschriebene Zitat vor: „Wenn ich nun einschlafe und in 100 Jahren wieder aufwache, werde ich die Frage ‘Was in Russland geschehe?’ mit ‘Sie saufen und stehlen.’ beantworten.“. Die Russophilen (ein heute verzerrter Begriff) werfen dem Film dagegen alles Mögliche vor, nur nicht das, wofür er Kritik verdient.
Natürlich, ein Großteil sowohl von den einen als auch von den anderen haben den Film gar nicht gesehen, haben das, was sie zitieren, nie gelesen, und werden das auch ihr Leben lang wohl nicht machen.
Deshalb sind ihre Meinungen auch so fest und kategorisch. Die Diskussion um „Leviathan“ nahm von Anfang an eine seltsame Richtung, wahrscheinlich wegen des Zeitpunkts der Erscheinung. Der Film wurde sofort als „bestellt“ abgestempelt, unabhängig davon, dass er noch vor 2008 begonnen worden ist und die Prototyp-Geschichte dahinter von einem Amerikaner aus dem Staat Colorado handelt.
In Russland kommen die schärfsten Kritiken gegen den Film erwartungsgemäß wegen des politischen Elements darin – das übrigens ganz nebensächlich thematisiert wird, zumindest was seine Tagesaktualität betrifft. Allerdings ist die Alleinstaatlichkeit traditionell empfindlich und mag es überhaupt nicht, wenn man ihr Schlechtes nachsagt, auch nicht mal andeutet.
Die Staatssender im Moment besingen die neuen russischen Waffen, schweigen jedoch zum internationalen Sieg des russischen Kinos mit „Leviathan“. Dabei ist das der erste Goldene Globus für Russland in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nach der Verfilmung von „Krieg und Frieden“ im entfernten 1969.
Das Problem von Radikalpatrioten und kranken Nationalisten ist, dass sie ihren Staat lediglich heuchlerisch und niederträchtig lieben. Sie posaunen damit öffentlich herum, aber was nicht liebenswert ist, halten sie verdeckt. Sie sind von solchen Filmen beleidigt, denn sie sind besorgt, dass das Heimatland bloßgestellt wäre und was, um Gottes Willen, würden die Leute von uns hier halten.
Nur, wahre Liebe zur Heimat ist dies nicht. Das ähnelt mehr der Liebe zur Familie – man kennt die Makel all seiner Verwandten, aber man liebt sie trotzdem. Was soll man denn sonst tun – man hat sie sich ja nicht ausgesucht.
In diesem Sinne scheint es mir, dass Zvyagintsev Russland liebt. Die russischen Nationalisten (und Konformisten, was in der heutigen russischen Realität das Gleiche ist) sind nun beleidigt, dass der Russe im „Leviathan“ zu viel fluche und saufe und dies nicht der Wahrheit entspräche. Gut, sei es dem so. Das endgültige Bild des Films bleibt jedoch russisch. Ich bin mit der Annahme nicht einverstanden, dass wenn man den Wodka gegen den Schnaps tauscht, das Monster Leviathan sich in unseren (bulgarischen) Gewässern heimisch fühlen würde, oder wenn man stattdessen Tequila nimmt – es mexikanisch wird usw.
Das mag politisch korrekt klingen und ist auch gut für Festtagreden geeignet, ist aber nicht wirklich wahr – die Begebenheit kann sich überall ereignen, die Macht kann dem Bürger überall Gewalt antun, aber die konkrete Wirklichkeit hier ist russisch.
Das eben nicht so sehr wegen des Saufens und der feudalen Lokalmacht, sondern vielmehr wegen jener Treffen zwischen dem Bürgermeister und dem Bischof. Und die „einsichtsvollen“ Kritiker des Liberalismus heute, diejenigen, welche in der russischen Orthodoxie die letzte „Alternative“ des westlichen Untergangs beschwören, sollten sich ernsthaft über das Zusammenwachsen von absolutistischer Macht und institutionalisierter Religion Gedanken machen.
Um diesen verwerflichen Bund sollten sie sich Sorgen machen, denn er ist nicht normal und stellt keine „Symphonie der Mächte“ nach byzantinischer Art dar. Ja, er ist typisch und wohl bekannt aus der Geschichte, aber nicht normal, sondern monströs – ein Leviathan.
Diejenigen, die den Film voreilig als antirussisch bezeichnen, sollten ihn lieber aus einer begründeteren Position heraus kritisieren. Z. B. in Bezug auf die Struktur – bis zum Schluss erfahren wir nahezu nichts über die Protagonisten. Es kommen auch einige legitime Fragen auf: Warum der sattelfeste Moskauer Anwalt, der klüger als alle in dieser hoffnungslosen Provinz ist, so einfach und naiv in den Wagen des Bürgermeisters einsteigt? Oder warum Lilja das machte, was sie im Wald tat, und dazu noch vor allen, ungeachtet des Risikos?
Warum der Bürgermeister sich ausgerechnet Nikolajs Häuschen vorknöpft, wenn entlang der Küste sonst nichts ist? Was ist sein „Nutzen“ davon? Diese Fragen sollen nicht verdrießen, sie kommen von allein, viele Betrachter werden sie sich beim Verlassen des Kinosaals stellen. Die Schauspieler sind tadellos, der Dialog ist sparsam und stark, aber die Motivation der Charaktere bleibt an vielen Stellen des Drehbuchs unklar. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass bei „Leviathan“ die Natur plausibler handelt als die Figuren. Letztere werden uns im Vergleich als weit ungestümer und unbeständiger gezeigt.
Vor unseren Augen wechseln sich angeblich Bilder einer landschaftlichen Ödnis, die Ödnis ist aber in den Menschen. Die Symbolik ist dicht, reichhaltig und betont biblisch – von den Fischen am Fließband, über den Schiffsfriedhof bis zum Walskelett. Jedes Bild ist tiefgründig und bewegend, virtuos ausgeführt. Aber in den Seelen dieser Menschen bleibt es weiterhin so trist und leer.
Die Landschaften im „Leviathan“ sind raffinierter als die Porträts.
Das ist auch einer der Gründe, warum der Film m. E. kein Meisterwerk ist, auch wenn man hier eindeutig von einem starken, beeindruckenden Kino sprechen kann.
Zvjaginzev ist nicht der „neue Tarkowski“. Solch eine dumme Definition klingt schlimm für beide. Nichtsdestoweniger ist „Leviathan“ wichtig, wertvoll und – wir wollen es ja nicht abstreiten – zeitgenössisch.
Und wenn es um die Fragen zu Hiob, Hobbes, der Vertikalen der Macht und der Umarmung mit der Kirche, sowie zu dem Abstempeln oder Nicht-Abstempeln, den Skeletten und dem Geist geht – der Zuschauer wird das alles letztendlich selbst entscheiden. Oder, leider Gottes, noch wahrscheinlicher wird er das entschieden haben, bevor er den Film gesehen hat. 
 Übersetzung aus dem Bulgarischen: Luba Karabadjakova